Den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern

Die Trennung von Kirche und Staat ist sicherlich einer der wichtigen Punkte, den die rot-blau-grüne Regierung 2013 in ihrem Koalitionsabkommen zurückbehalten hat. In diesem Zusammenhang werden nun der Religions- und der Moral- und Sozialunterricht abgeschafft und durch den einheitlichen Kurs „Leben und Gesellschaft“ ersetzt. Zuerst im Sekundarunterricht zum Schulbeginn im Herbst und ein Jahr später dann in der Grundschule. Was erwarten Sie sich von dieser Neuerung und warum erfolgt sie in zwei Schritten?

Georges Engel: Es gibt viele andere wichtige Punkte im Regierungsprogramm; dies ist einer davon, für mich persönlich ist er sehr wichtig. Ich erwarte mir davon einen Fortschritt in unserer Denkweise und im Hinblick auf die soziale Kohäsion in unserer Gesellschaft. Hier wird nicht eine Kirche oder eine Glaubensrichtung privilegiert, sondern Werte. Das ist für mich das Entscheidende.

Engel Georges

Taina Bofferding: Diese wichtige Neuerung erfolgt in zwei Schritten, zuerst im Sekundarunterricht, da die Einführung aufgrund verbeamteter Lehrer, die sich bereits im Staatsdienst befinden, dort einfacher ist. Im Grundschulbereich dauert es ein bisschen länger, weil viele von denen, die bislang für den katholischen Unterricht zuständig waren, kein entsprechendes Diplom haben. Das macht die Sache nicht leichter. Zudem erlaubt das sozialpolitische Verständnis unserer Partei es nicht, diese Menschen einfach auf die Straße zu setzen. Deshalb dauert es ein bisschen länger, weil viele von dieser Umstellung betroffen sind und wir entsprechende Lösungen finden müssen.

Der neue Kurs „Leben und Gesellschaft“ beruht auf einem Kompromiss, der u.a. zwischen Verfechtern eines religionsneutralen Werteunterrichts und Vertretern des Religionsunterrichts ausgehandelt wurde. Wieviel Religion ist im neuen Kurs noch enthalten?

Einheitlicher Werteunterricht mit multidisziplinärer Ausrichtung

Georges Engel: So viel Religion, wie notwendig ist, um die Gesellschaft zu verstehen, in der wir leben. In Zeiten wie diesen wäre es meines Erachtens falsch, Religionen einfach wegzulassen bzw. auszugrenzen. Religionen sind eine gesellschaftliche Tatsache, die man in diesem einheitlichen Kurs berücksichtigen muss. Religionen sind Teil unserer Gesellschaft, sie bilden aber nicht die Grundlage des neuen Kurses. Für mich ist der Ansatz eher ein philosophischer, obwohl der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang auf eine multidisziplinäre Ausrichtung setzt.

Taina Bofferding: Wir haben immer betont, dass wir Religionen nicht vollständig aus dem Schulprogramm verbannen wollen.  Es soll weiter über Religionen gesprochen werden, dabei soll es aber um Erkenntnisgewinn gehen, nicht um ein Glaubensbekenntnis, wie dies beim Religionsunterricht Voraussetzung ist. Der neutrale Ansatz, der Blick von außen ist für uns das Entscheidende. Wir können uns z.B. aus historischer, soziologischer und philosophischer Sicht mit dem Thema Religion auseinandersetzen, wir sollten über alles diskutieren können. Es kommt letztlich darauf an, wie und unter welchen Voraussetzungen die Themen behandelt werden.

Bofferding-Taina

Unterm Strich scheinen sie mit der Ausrichtung des neuen Kurses zufrieden zu sein?

„Der neue Kurs ist ein guter Kompromiss“

Georges Engel: Es wird ja kaum über einen anderen Schulkurs so viel diskutiert wie über diesen. Ich denke, dass es ein guter Kompromiss ist. Wenn es Probleme geben sollte, muss dort nachgebessert werden, wo es notwendig ist. Das wird man in ein paar Jahren sehen und dann wird der Kurs entsprechend angepasst. Diejenigen, die den Kurs in die eine oder andere Richtung ziehen wollten, konnten sich nicht durchsetzen, und das ist gut so.

Taina Bofferding: Der Kurs „Leben und Gesellschaft“ ist ein lebendiger Kurs, der nicht in Stein gemeißelt ist. Er wird sich dem gesellschaftlichen Wandel anpassen. Es gibt keinen anderen Kurs, der in den kommenden Jahren so kritisch unter die Lupe genommen wird. Die Eltern werden die weitere Entwicklung mit großem Interesse verfolgen und sehr wachsam sein. Hinzu kommt eine Fortbildung für Lehrer, die auf die neue Aufgabe und Herausforderung vorbereitet werden. Und nach ein paar Jahren wird dann Bilanz gezogen. Es ist ja auch ein offener Kurs, der wesentlich von der Beteiligung der Schüler lebt. Genau das ist ja spannend an dem Kurs, dass Lehrer auf die Bedürfnisse und Interessen der Schüler eingehen sollen.

Sie haben einige Vorzüge des neuen einheitlichen Kurses angesprochen. Doch es gibt auch Unzufriedene, die lieber die Wahlmöglichkeit gehabt hätten. Was spricht in ihren Augen gegen die freie Wahl? Oder anders gefragt: Warum ist ein einheitlicher Wertekurs heutzutage notwendig?

„Mit religiöser Indoktrination auf Staatskosten muss Schluss sein“

Taina Bofferding: Man muss in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die angesprochene Wahlmöglichkeit im Grunde doch sehr begrenzt war. Es gab die Wahl zwischen einem katholischen Religionsunterricht und einem religionsneutralen Sozial- und Moralunterricht. Alle anderen Religionsgemeinschaften blieben außen vor. Privilegien einer Religion gegenüber allen anderen sind weder zielführend noch gerecht oder zeitgemäß. Worauf es in unserer Gesellschaft ankommt, ist das Zusammenwachsen und die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. In unseren Augen bietet der religionsneutrale, einheitliche Werteunterricht die geeignete Plattform, dies zu fördern. Mit religiöser Indoktrination auf Staatskosten muss ein für alle Mal Schluss sein.

„Es geht um die Vermittlung gemeinsamer Werte“

Georges Engel: Und wo wären wir hingekommen, wenn alle Glaubensgemeinschaften dieselben Ansprüche in der öffentlichen Schule geltend gemacht hätten? Das wäre ja im Grunde die logische Konsequenz gewesen, wenn wir nicht den Weg eines einheitlichen religionsneutralen Werteunterrichts eingeschlagen hätten. Das hätte die Gesellschaft noch mehr gespalten, als dies bislang der Fall ist. Jede Glaubensgemeinschaft würde verstärkt ihre Eigenarten hervorheben; das gegenseitige Verständnis würde notgedrungen darunter leiden bzw. auf der Strecke bleiben. Das wäre meiner Ansicht nach katastrophal gewesen. Ein religionsneutraler einheitlicher Kurs dagegen verbindet, weil er die gleichen Werte vermittelt. Menschenrechte sind universell, sie bilden die Grundlage für Toleranz und gegenseitigen Respekt. Zudem kann jeder Schüler vor dem Hintergrund eines religionsneutralen Unterrichts für sich entscheiden, was für ihn wichtig und richtig ist.

Kommen wir zum Inhalt, zur Zielsetzung und methodischen Ausrichtung des Kurses „Leben und Gesellschaft“. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass praktische Philosophie die Grundlage des neuen Kurses bilden sollte. Haben Sie sich damit durchsetzen können? Und was sind die konkreten Kursinhalte und Ziele?

Georges Engel: Wir haben uns hier nicht zu 100 Prozent durchsetzen können. Wir haben den Konsens gesucht und einen tragfähigen Kompromiss gefunden. Von der praktischen Philosophie ausgehend haben wir uns auf einen multidisziplinären Ansatz geeinigt. Damit können wir leben, auch wenn ich es lieber andersherum gehabt hätte.

„Neutralität ist für uns entscheidend“

Taina Bofferding: Ja, wir wären lieber einen Schritt weiter gegangen. Wichtig aber ist, dass Neutralität gegeben ist, dass das sogenannte Überwältigungsverbot gilt und Lehrer sich mit ihrer eigenen Meinung zurückhalten müssen. Wichtig ist außerdem, dass die ausgewählten Bücher und das didaktische Material dem Anspruch der Neutralität genügen müssen.

Wenn wir von Religionsneutralität sprechen, stellt sich auch die Frage, wie Neutralität in der schulischen Praxis gewährleistet werden kann, wenn man bedenkt, dass auch ehemalige Religionslehrer diese Kurse unterrichten können, sofern sie über die notwendige Ausbildung verfügen?

Taina Bofferding: Eine entsprechende Aus- bzw. Fortbildung ist für alle Pflicht, das ist das eine. Andererseits müssen sich alle Lehrer, und das gilt auch für ehemalige Katecheten, an die programmatischen und methodologischen Vorgaben des neuen Kurses halten. Wenn beides gewährleistet ist, gibt es eigentlich keinen Grund, wieso man ehemalige Religionslehrer vom Unterricht ausschließen sollte. Ich kann allerdings nachvollziehen, dass dieser Sachverhalt, Anlass zu Fragen gibt.

Georges Engel: Man kann auch andersherum fragen, wie es um die Neutralität in allen anderen Fächern bestellt ist: im Sprachenunterricht, in der Geschichte, der Ökonomie, der Philosophie usw. Das Beamtenstatut setzt Neutralität voraus; allein das müsste sicherstellen, dass alles mit rechten Dingen zugeht und der Neutralitätsvorgabe entsprochen wird. Der abgelegte Eid des Beamten bürgt hierfür.

Die Trennung von Kirche und Staat ist eine langjährige Forderung der LSAP, die nun nach und nach umgesetzt wird. Was sind nun die weiteren Schritte, die die Regierungskoalition in den beiden kommenden Jahren diesbezüglich unternehmen wird?

Einheitlicher Werteunterricht an Grundschulen im nächsten Jahr

Taina Bofferding: Im Herbst wird das Parlament voraussichtlich die Konventionen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften verabschieden, die deren Finanzierung längerfristig regeln. Dann wird es darum gehen, die Besitzverhältnisse zwischen Kirchenfabriken und Gemeinden zu klären und den einheitlichen Kirchenfonds zur Verwaltung des Kirchenbesitzes einzuführen. Im kommenden Jahr zur Schulrentrée 2017/18 wird dann der einheitliche Kurs „Leben und Gesellschaft“ in den Grundschulen eingeführt. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf die zivile Zeremonie zum Nationalfeiertag hinweisen. An dieser neutralen Feier kann jeder teilnehmen, hier stehen nicht Religionen im Mittelpunkt, sondern wichtige Werte, die uns alle verbinden: Solidarität, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Respekt und Toleranz. Auch hier konnte die Regierung punkten und einen wesentlichen gesellschaftlichen Fortschritt erzielen.

Georges Engel: Ich denke, dass die Regierung gut verhandelt und zu Recht den Konsens mit der katholischen Kirche gesucht hat. Schließlich geht es hier um Dinge, die über einen sehr langen Zeitraum gewachsen sind. Die kann man nicht von heute auf morgen einfach so über Bord werfen. Man sollte klare Linien vorgeben, die einzuhalten sind, man sollte aber auch den Veränderungen die nötige Zeit lassen, damit der Wandel möglichst reibungslos und im Konsens über die Bühne gehen kann. Der eingeleitete Ausstieg aus der staatlichen Kirchenfinanzierung kommt nicht von heute auf morgen. Er wird sich über 20 Jahre erstrecken. Und das ist gut so. Weniger gut finde ich das Verhalten der CSV, die nun im Parlament gegen die Einführung eines neutralen Werteunterrichts im Sekundarunterricht stimmen will, obwohl sie genau das in ihrem Wahlprogramm 2013 angekündigt hat. Die CSV tut dies aus reinem Opportunismus, sie will den rechten Flügel in der eigenen Partei nicht verprellen und straft sich damit selber Lügen, indem sie sich der Position der adr anschließt. Das ist schäbig.

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