Innenminister Dan Kersch: “Sozialdemokratie anno 2017: Geht doch!” – TEIL 2

Jeremy Corbyn hat sozialdemokratische Programmatik wieder in den Fokus der Politik gebracht. Sein demokratisches Mandat als Parteivorsitzender, das er durch die Direktwahl aller Mitglieder erhalten hatte, war der Beton, der gebraucht wurde, um den postwendend gegen ihn eingeleiteten parteiinternen Putsch, abzuwehren. Die 172 von 230 Labour- Abgeordneten, die Corbyn ihr Misstrauen aussprachen, mussten erleben, dass die Partei eben mehr ist als „nur“ die Fraktion der Abgeordneten.

Es bleibt, dass manche in der Partei partei-interne Abstimmungen nur dann für verbindlich halten, wenn das Ergebnis ihren Vorstellungen entspricht, eine Einstellung mit verheerendem Spaltpotenzial.

Manuel Valls trieb in Frankreich den Verrat nach seiner Niederlage bei den Vorwahlen noch weiter, verließ das sinkende Schiff, das er als Premierminister selbst leck geschlagen hatte. Dabei war er sich nicht einmal zu schade, die Totenmesse für die sozialistische Partei zu singen, die er selbst gemeuchelt hatte („Le parti socialiste est mort“). Hamon mobilisierte als Präsidentschaftskandidat angesichts einer zerrissenen Partei gerade einmal 6,36 Prozent der Wähler, und verlässt nun selbst die Partei.

Die (selbst verschuldete) öffentliche Kampagne gegen den PS wurde nach dem gleichen Strickmuster geführt wie gegen die Labour-Party nach Corbyns Aufstieg. Hamon wie Corbyn wurden als biedere, profillose, ideologisch verbrämte Hinterwäldler diffamiert. Beide Parteien wurden öffentlich zerrissen, und kein namhafter Vertreter der sogenannten „Schwesterparteien“ in Europa hatte sich schützend vor sie gestellt. Wen wundert es? Wenn selbst der Papst mit offen kapitalismuskritischen Stellungnahmen sozialdemokratischer auftritt als die internationalen Bündnisse der Sozialdemokratie, muss die Ausrichtung dieser Bündnisse ohnehin auf den Prüfstand kommen.

Doch Großbritannien ist nicht Frankreich, und Labour nicht der seit jeher strukturschwache „Parti socialiste“ (seinerzeit von Mitterrand geschaffen zur Absicherung seiner präsidialen Mehrheit) der dem Sturm auf die Partei nicht widerstand.

Es bewährte sich, dass die traditionsreiche Labour-Partei trotz nicht zu verleugnender Richtungskämpfe (verschiedene Vertreter von New Labour hatten sogar dazu aufgerufen, Corbyn nicht zu wählen) nicht auseinanderfiel. Und Jeremy Corbyn holte mit einem klar sozialdemokratisch orientierten Programm über 40 Prozent der Wählerstimmen. Dies ist die historische Lektion, die Old Labour in die sozialdemokratische Welt sendet, und sie ist weit mehr als nur ein Hoffnungsschimmer.

Jeremy Corbyns Beispiel zeigt, dass die LSAP, als strukturstarke Partei mit einem zu überdenkenden, aber funktionierenden Organisationsmodell als echte, politische Alternative zum konservativ-liberalen Mainstream angenommen wird, solange sie sich nicht auseinander dividieren lässt und ihre programmatischen Werte stärkt.

In Luxemburg setzt die LSAP zudem noch in dieser Legislaturperiode herausragende, soziale Akzente. Die Wiedereinführung des Indexsystems, wie die Ablehnung an Veränderungen des öffentlichen Pensions-Systems (obwohl beide Koalitionspartner solche noch in der Opposition gefordert hatten) war ein Hauptgrund für die Beteiligung der LSAP an der neuen Regierung.

Insgesamt 3,7 Prozent mehr Lohn in der öffentlichen Funktion sind ein klares Signal für eine verbesserte Lohnpolitik auch im Privatsektor. Im Sozial- und Pflegebereich sowie im Spitalwesen ist die tausendfache Aufwertung der Karrieren endlich unter Dach und Fach. Die Steuerreform ist in ihrer Tragweite zugunsten der mittleren und untersten Einkommen einmalig. Dies alles gelang, bei gleichzeitiger Konsolidierung der Staatsfinanzen, vor dem Hintergrund eines wirtschaftlichen Aufschwungs und eines Rückgangs der Arbeitslosigkeit.

Trotz alledem werden wir regelmäßig mit halbwegs wissenschaftlich begründeten Meinungsumfragen daran erinnert, dass sich die Regierung und auch die LSAP nicht besonderer Beliebtheit erfreuen. Die Gründe dafür mögen bei den Umständen der letzten Regierungsbildung liegen, beim verpatzten Referendum, bei der Kommunikation oder, oder, oder…?

Die Analysten sind sich uneinig, und eigentlich ist es auch egal, weil erstens niemand es mit Sicherheit sagen kann, und es zweitens den Lauf der Geschichte wohl kaum berühren wird. Durch ihre Widersprüchlichkeit geben sie zudem wenig Aufschluss über die wahren Beweggründe der Wählerinnen und Wähler. Wie soll man zum Beispiel verstehen, dass die Regierung beliebter als die Opposition sein soll, gleichzeitig aber die größte Oppositionspartei, deren Kandidaten bei der Einzelbeurteilung schlecht abschneiden, mit weniger als 40 Prozent der Gesamtstimmen fast die Hälfte aller Abgeordnetenmandate erhalten soll?

Mehr Meinung machen als Meinung erforschen

 

Wenn Meinungsumfragen mehr Meinung machen als Meinung erforschen, muss man sie jedoch auf jeden Fall als politischen Faktor ernst nehmen. Alles andere wäre unvernünftig. Unbestritten ist, dass Meinungsumfragen nicht nur einen Einfluss auf das politische Verhalten der Wählerinnen und Wähler haben, sondern auch innerhalb der Parteien ihre Wirkung nicht verfehlen. Wer unfähig wird, selbst dem Volk aufs Maul zu schauen, lässt die Meinungsforscher ran, und verliert dabei so ganz nebenbei die Souveränität über die eigene inhaltliche Position.

Überzeugungsarbeit verrichten, keinesfalls aber programmatische Anpassung an die (vermeintliche) Mehrheitsmeinung ist deshalb die Lehre, die aus den Meinungsumfragen zu ziehen ist.

Politik ist die Kunst des Machbaren, sie ist aber vor allem aber auch das Handwerk der positiven Meinungsbildung. Wer selbst nicht überzeugt ist und die Fahne nach dem Wind dreht, wird nicht überzeugen. Gesellschaftliche Veränderungen sind fast immer das Werk von Minderheiten, die das Kunststück fertiggebracht haben, Mehrheiten für ihre Ideen zu erreichen. So, und nur so, ist es zur Schaffung von leistungsfähigen Sozialsystemen, 40-Stundenwoche, schützenden Arbeitsgesetzen und Sozialstandards gekommen.

Die Frage einer sozialistischen Regierungsbeteiligung ist eine taktische, die es von Fall zu Fall zu beantworten gilt. Wie viel sozialistische Programmatik fließt in ein Regierungsprogramm? Verfügt man über das geeignete politische Personal, das in der täglichen Regierungspolitik bestehen kann? Über die langfristige Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der LSAP entscheidet jedoch nicht die Regierungsfähigkeit, sondern unter anderem die Fähigkeit zum organisatorischen Umbau der Partei, mit einer Stärkung der lokalen und nationalen Parteigremien – auch gegenüber einer gut organisierten Parlaments- und Regierungsfraktion. Von entscheidender, strategischer Bedeutung ist jedoch die Vermittlung sozialistischer Programmatik, mit:

– klaren Aussagen für eine gerechte Steuerpolitik (z. B. Absage an eine weitere Absenkung der Körperschaftssteuer, Entlastung für untere und mittlere Einkommen zu Ungunsten hoher Einkommen);

– klaren Bekenntnissen zum öffentlichen Rentensystem (keine Leistungsverschlechterungen, keine Erhöhung des Renteneintrittsalters);

– Maßnahmen gegen die Verarmung von arbeitenden Menschen (Erhöhung des Mindestlohnes);

– Schritten in die Arbeitszeitverkürzung und gerechte Verteilung der Erträge der Produktivitätssteigerungen;

– Garantien für die öffentliche Sicherheit, die nicht privatisiert werden darf;

– der Stärkung der demokratischen Institutionen mit verstärkter Bürgerbeteiligung;

– Bekenntnisse zur internationalen Solidarität und Friedenssicherung (mindestens 1 Prozent für Kooperationshilfe, Ablehnung des NATO-Konzepts 2 Prozent BIP für militärische Ausgaben).

Dies sind nach meiner Ansicht einige, nicht verhandelbare sozialistische Bausteine für das Haus Luxemburg, und sie müssen als solche auch im Wahlprogramm gekennzeichnet werden.

Es müssen klare, rote Linien gezogen werden: die Wählerinnen und Wähler sollen erfahren, was mit den Sozialisten geht, und wo es ein klares „No Go“ gibt. Es gilt, diese Bausteine zu verfeinern, zu erklären und zu verbreiten, und im Wettbewerb mit anderen politischen Ansätzen zu verteidigen.

Angesichts der programmatischen und personellen Leere, die uns vor allem von Oppositionsseite umgibt, wird ein echt sozialdemokratisches Programm das Profil der LSAP als linke Alternative schärfen. Wir müssen hinein in die Herzen der Menschen, die es satt sind, politische Programmatik in nichtssagenden Schachtelsätzen verkauft zu bekommen. Wenn uns dies gelingt – und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln – ist mir nicht bange um die Zukunft der LSAP.

Teil 1 “Sozialdemokratie anno 2017”

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