Innenminister Dan Kersch: « Sozialdemokratie anno 2017: Geht doch! »

Ob in Deutschland, Frankreich, Belgien oder den Niederlanden, die Zeichen stehen nicht gut für die Schwesterparteien der LSAP in Zentraleuropa. Eine Analyse der Fakten ist sicherlich schmerzlich, aber notwendig. Die konservativen Kräfte erfreuen sich am erhofften Niedergang des historischen Gegners, ermöglicht dies doch eine willkommene Ablenkung von den eigenen, tief greifenden Problemen. Sie haben einerseits gescheiterte wirtschaftliche Konzepte zu verantworten, die unüberbrückbare, sozialpolitische Probleme geschaffen haben, und dulden in ihren Reihen nach wie vor nationalistische, autoritäre Kräfte, die fundamentale Werte der Menschenrechtskonvention missachten.

Freude bei Konservativen und bei radikalen Linken

Aber auch die radikalen Linken prognostizieren etwas vorlaut den Untergang der Sozialdemokratie und sehen den Ausgangspunkt zum Aufbau der wahren, der erleuchtenden Alternative gekommen. Doch was feiern sie eigentlich? Wer gewinnt, wer verliert, wenn Sozialdemokraten Wahlen, und damit politischen Einfluss verlieren? Die Gleichung weniger für die Sozialdemokratie = mehr für radikale, linke Positionen ist schlicht falsch. Die Schwächung der Sozialdemokratie geht sogar oft einher mit einer besorgniserregenden Stärkung von populistischen, rechten Kräften. Die Offensichtlichkeit der Handlungs- und Konzeptunfähigkeit der radikalen Linken, bei gleichzeitiger Absenz eines klar formulierten Gesellschaftsprojekts aufseiten der Sozialdemokratie, das ideologisch, wie in der Vergangenheit, als Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschritts verstanden wird, schafft ein politisches Vakuum, das prompt von rechten Kräften genutzt wird, um autoritäre Konzepte des starken Mannes wieder hoffähig zu machen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Gesellschaft, dass die arbeitenden Menschen wenig zu gewinnen, vor allem in Luxemburg aber viel zu verlieren haben, wenn regierungsfähige, sozialdemokratische Positionen politisch geschwächt werden.

Sozialistische Politik ist historisch geprägt vom Aufbau von öffentlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen, sie steht für menschenwürdige Arbeitsgesetze und Arbeitszeiten, für die Verteidigung von demokratischen Prinzipien, für individuelle Freiheiten und Lebensformen. Es wäre ein Fehler zu glauben, dies alles sei gottgegeben und werde nie mehr in Frage gestellt. Ein Blick nach Amerika, wo ein von einer Minderheit gewählter Präsident das zarte Pflänzchen einer Krankenversicherung wieder rückgängig machen will, zeigt, wie vergänglich auch einmal erreichte Fortschritte sein können.

Das sozialdemokratische Gesellschaftsmodell, aufbauend auf demokratischen Grundprinzipien und der sozialen Marktwirtschaft, das Wirtschaft wachsen und Menschen sich entfalten lässt, das Sozialdialog mit geteilten Verantwortungen propagiert, das starke Menschen fördert und Schwächere stützt, wird zunehmend als lästig empfunden. Es stört in einem Politikverständnis und einem Weltwirtschaftssystem, wo Produktivitätssteigerung und Profitmaximierung längst das Maß aller Dinge sind und der Mensch bestenfalls als Produktionsfaktor gilt, der mittelfristig durch Maschinen ersetzt werden kann. Den mit allen zur Verfügung stehenden Waffen der psychologischen Kriegsführung ausgeübten ideologischen Angriff auf sozialdemokratische Konzepte können Sozialisten und Sozialdemokraten nur erfolgreich kontern, indem sie ihre eigenen Werte bewusst in die Waagschale werfen. Dabei ist es von besonderer Wichtigkeit, sich nicht ideologisch benebeln zu lassen.

Macrons politischen Rezepte sind keineswegs neu

Ich kann mich dem Hype um den neuen französischen Präsidenten nicht anschließen. Sein Programm ist beeinflusst von der wirtschaftsbesessenen Ideologie der „Chicago-Schule“ (müsste man nicht eher von „Chicago-Gang“ sprechen?) um Milton Friedman und Friedrich von Hayek. Politik wird nicht dadurch anders, dass Gesichter ausgetauscht werden. Macron ist der Konkursverwalter einer europäischen Politik, die in Frankreich, wie auch anderswo, gescheitert ist. Seine politischen Rezepte sind keineswegs neu, sie haben zum Ziel, Frankreich politisch zu germanisieren. Vielleicht kann er deshalb der deutschen Bundeskanzlerin eine Erhöhung der ganze Staaten knebelnden Schulden-Stabilitätsmarke von drei auf vier Prozent abringen, damit sind aber noch lange keine neuen wirtschaftspolitischen Akzente oder steuerpolitische Gerechtigkeit geschaffen. Macrons „Reform der Arbeitsgesetze“, wie verschlechterte Arbeits- und Lebensbedingungen für Millionen von Menschen und die radikale Senkung der anfallenden Entschädigungssummen im Entlassungsfall hypokritisch umschrieben werden, soll nach dem deutschen Modell geschehen. Gerade Deutschland, das sich beim Arbeitsschutz mit einigen osteuropäischen Staaten in den untersten Regionen des europäischen Vergleichs ansiedelt! Vor allem aber soll – Frau Thatcher grüßt aus dem Jenseits – die Macht der Gewerkschaften gebrochen werden, wenn möglich noch mit dem Segen der Gewerkschaften. Gleichzeitig werden die Gewerkschaften als rückwärtsgewandte Bremser verunglimpft, die alles „Neue“ verhindern.

Welch perfide Strategie, welch dreiste Geschichtsfälschung, die unterschlägt, dass gerade die Gewerkschaften, zusammen mit der Sozialdemokratie, den gesellschaftlichen, sozialen und demokratischen Fortschritt erst ermöglicht haben, den es heute zu verteidigen und auszubauen gilt. Die „Erneuerer“ von heute sind in Wirklichkeit die Verwalter der gewachsenen Herrschaftsstrukturen von gestern, die keinesfalls weitere, soziale und demokratische Rechte aufbauen, sondern kaputt schlagen, was andere aufgebaut haben.

In Luxemburg wäre Macron Mitglied der CSV oder der DP, für die LSAP ist seine Art der Erneuerung unbrauchbar. Die überdimensionierte mediale Berichterstattung verfolgt natürlich den Zweck, einmal gescheiterte Politik in neuer Verpackung zu „verkaufen“, sie soll aber vor allem Macrons Programm als alternativlos darstellen. Dabei gibt es sehr wohl Alternativen, sie werden nur nicht vermittelt.

Corbyn macht‘s vor: Sozialdemokratie lebt

Macron kommt jedoch gerade recht, um ein wirklich bedeutendes, politisches Phänomen zu unterschlagen. Jeremy Corbyn hat in Großbritannien mit einem echt sozialdemokratischen Programm über 40 Prozent der Stimmen geholt. Sein Zwölf-Punkte-Manifest, für gestärkte demokratische Strukturen, für ein Wirtschaftssystem, das im Interesse aller funktioniert, für eine nationale Erziehungspolitik, für soziale Sicherheit, Gesundheit, Arbeit und Wohnung für alle, für ein staatliches Sicherheitsmonopol ist in der Tat sozialistische Programmatik mit Reinheitsgebotsgarantie.

Will der Kerl doch tatsächlich die Betriebsbesteuerung genau wie die Steuerlast für die oberen fünf Prozent erhöhen, bei gleichzeitiger Entlastung der Mehrheit der Haushalte. Und verspricht ein gewaltiges, jobschaffendes Investitionsprogramm von 250 Milliarden Pfund (295 Milliarden Euro), bei gleichzeitiger Stärkung der öffentlichen Sozialsysteme, Rückgängigmachung von Privatisierungen bei Post und Eisenbahnen, Ausgleich von regionalen Benachteiligungen nach dem Motto: gleiches Recht für alle. Sein genauso einfacher wie genialer Slogan: „For the many, not for the few“ trifft ins Schwarze, weil es in ein paar Wörtern zusammenfasst, was Millionen Menschen in Europa im Herzen empfinden.

Corbyns Programm ist das genaue Gegenteil von dem, was die Politik den Menschen seit Jahrzehnten als Medizin aufzwingt. Bei hoher Wahlbeteiligung (68,7 Prozent) holte er so viele Stimmen wie nie zuvor ein Labour-Kandidat: Tony Blair erhielt im Jahr 2001, als medienumworbener Star von „New Labour“ 10,7 Millionen Stimmen, Jeremy Corbyn erreichte 12,9 Millionen. Dabei war Corbyn angetreten mit der Bürde eines Tony Blair als Vorgänger, dessen Stern gemeinsam mit seinen dreisten Irak-Krieg-Lügen kläglich unterging.

Wenn die Theorie stimmt, dass Wahlen nur in der Mitte zu gewinnen sind, dann muss die „politische Mitte“ neu definiert werden. Die Mitte ist da, wo die Herzen schlagen, und die Menschen glauben nicht mehr an liberale Politikmodelle, die viel versprochen und wenig gehalten haben.

Deshalb hat Jeremy Corbyn, zum Teil gegen Widerstand in den eigenen Reihen und in der europäischen Sozialdemokratie, ein offensiv sozialdemokratisches Programm präsentiert. Dabei ist es von aufmunternder Bedeutung, dass vor allem junge Menschen sich für Corbyn und sein Programm begeistern können, wie die Wahlanalysen zeigen.

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